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Der Kreter Portos und der „Barbar“ Melville

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Dominikos Theotokopoulos (El Greco) war  wohl der berühmteste Kreter, der seine Heimatinsel verliess und im Westen „Karriere“ machte. Er war aber nicht der einzige. Hier ist hervorzuheben, dass Byzanz zum europäischen Humanismus entscheidend beitrug. Es sei insbesondere auf die Aktivität jener Männer hingewiesen, die im 14. und 15. Jahrhundert die Kenntnisse der griechischen Sprache und Literatur in Italien verbreiteten und auf diese Weise das von Byzanz gehütete Kulturerbe dem Westen vermittelten. Wie ich in meinem Buch „Das andere Byzanz, Konstantinopels Beitrag zu Europa“ (Universitätsverlag Freiburg Schweiz 1991, ISBN 3-7278-0766-0) ausführlich darlege, war das Wirken dieser Diaspora-Byzantiner für den europäischen Humanismus von grosser Bedeutung. Die betreffenden griechischen Gelehrten waren teils aus Konstantinopel, so z. B. der um 1350 dort geborene Humanist Manuel (Manouil) Chrysoloras, teils aus anderen Orten, insbesondere auch aus Kreta, gekommen. 

Nicht wenige von den betreffenden Griechen verliessen ihre Heimat schon vor der im Jahr 1453 erfolgten Eroberung Konstantinopels durch die Türken. Nicht in allen Fällen waren die Auswanderer Flüchtlinge im strengen Sinne des Wortes. Anders ausgedrückt: Die Förderung des europäischen Humanismus durch byzantinische Gelehrte hing nicht immer mit der Flucht vor den Türken zusammen. Es muss dabei in Betracht gezogen werden, dass im 14. Jahrhundert trotz des West-Ost-Gegensatzes vielfältige Kontakte zwischen Italienern und hellenischen Byzantinern bestanden. Zur engeren hellenisch-italienischen Berührung trug in manchem Fall die Lateinerfreundlichkeit bestimmter Byzantiner bei, was sich wiederum auf den Einfluss des Diaspora-Griechentums in Italien positiv auswirkte. Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass der 1397/98 geborene Gelehrte Demetrios Kydones Thomas von Aquin ins Griechische übersetzte.

Der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt (1818-1897) hat in seinem meisterhaften Werk über die Renaissance in Italien den Beitrag der „griechischen Gelehrsamkeit“ zur Kulturblüte im Florenz des 15. und 16. Jahrhunderts gebührend gewürdigt. Seit Jacob Burckhardt vermehrte die Forschung unser Wissen über diesen Beitrag. Dadurch wurde die Bedeutung der byzantinischen Diaspora akzentuiert. Erasmus von Rotterdam (gest. 1536) hörte während eines Italienaufenthaltes in Padua den kretischen Gelehrten Markos Musuros (1470-1517) dozieren. Padua zählte zu jenen italienischen Städten (Rom, Bologna, Ferrara, Venedig u.a.), welche nebst Florenz damals besoldete Lehrer des Griechischen hatten. Musuros war ein enger Mitarbeiter des bedeutenden humanistischen Verlegers Aldus Manutius (1450-1515). Bei Aldo Manucci wurden die wichtigsten Autoren zum ersten Mal griechisch gedruckt.

Die Diaspora-Griechen, von denen hier die Rede ist, benutzten im Alltag und in ihrer Lehrtätigkeit die Aussprache ihrer Zeit, nicht die geschichtlich überholte Phonetik der alten Griechen. Dieser Praxis folgte auch der deutsche Humanist Johannes Reuchlin (1455-1522). Kapnion (Capnio) - so hatte Reuchlin seinen Namen gräzisiert - stand unter dem Einfluss seiner griechischen Lehrer. Er war deshalb ein Befürworter des sogenannten Itazismus oder Jotazismus. Gemäss dem Itazismus werden alle Vokale, welche die nachantiken Griechen als i aussprachen bzw. aussprechen, ebenfalls als i ausgesprochen. Für die griechischen Byzantiner war der Itazismus etwas ganz Selbstverständliches. Der Spätbyzantiner Johannes (Ioannis) Argyropulos (Argyropoulos) (um 1415-1487) war begeistert, als er in Italien Reuchlin kennenlernte und ihn in der ihm vertrauten Aussprache seine griechische Muttersprache  sprechen hörte. Argyropoulos soll enthusiastisch ausgerufen haben: „Siehe da, Griechenland hat durch unser Exil die Alpen überflogen!“ („Ecce, Graecia nostro exsilio transvolavit Alpes“).

Im humanistischen Europa konnte sich allerdings die „byzantinisch-neugriechische“, von der Phonetik des Altgriechischen in mancher Beziehung abweichende Aussprache nicht durchsetzen, obschon sie das Resultat einer natürlichen und organischen Sprachentwicklung bildete bzw. bildet. Nicht Reuchlins lebensnahe Sprachauffassung siegte, sondern diejenige von Erasmus von Rotterdam, also insbesondere der dem Itazismus widersprechende sogenannte Etazismus. Erasmus unternahm in der in Basel entstandenen Arbeit über die richtige Aussprache des Lateinischen und des Griechischen („De recta Latini Graecique sermonis pronuntiatione dialogus“) die Rekonstruktion der altgriechischen Phonetik. Nicht zuletzt jener Rekonstruktion „verdanken“ wir heute zahlreiche Inkonsequenzen und Schwierigkeiten bei der Transkription griechischer Wörter - Inkonsequenzen und Schwierigkeiten, welche sich notgedrungen auch im vorliegenden Buch widerspiegeln.

Der zentrale Gedanke von Erasmus, dass die alte griechische Aussprache nicht die gleiche gewesen sein kann wie die neue, ist zweifelsohne zwar im Prinzip richtig. Etwas anderes ist freilich die Frage, ob und in welchem Ausmass die Restauration der altgriechischen Phonetik, wie Erasmus sie vornahm, über jeden Zweifel erhaben ist. Es kann hier nicht auf Einzelheiten eingegangen werden. Ich beschränke mich lediglich auf zwei Bemerkungen zur Verdeutlichung der Sache. Eines der klassischen Argumente der Befürworter der erasmischen Theorie ist ein Vers des Dichters der altattischen Komödie Kratinos. Wenn man diesen Vers gemäss der „byzantinisch-neugriechischen“ Aussprache  (also das Eta als i und das Beta als w) läse, müsste man zur absurden Schlussfolgerung kommen, die Schafe hätten im 5. vorchristlichen Jahrhundert wi, wi und nicht bä, bä geblökt! Andererseits gibt es altgriechische Quellen, welche zeigen, dass wir hinsichtlich der altgriechischen Phonetik zumindest vorsichtig sein sollten. Hierher gehört etwa ein Orakelspruch von Delphi, mit dem offenbar die Altgriechen Probleme hatten, denn es war nicht klar, ob der Spruch Hungersnot (limos) oder Pest (loimos) meinte.

Ungeachtet ihres historisch richtigen Kerns errichtete die erasmische Aussprache eine Mauer zwischen den Fremdsprachigen und den Neugriechen, denn sie ging und geht an der sprachlichen Fortentwicklung vorbei. Wenn sich das Sprachgefühl Reuchlins durchgesetzt hätte, gäbe es diese Mauer nicht, und die ausländischen Bewunderer des alten Griechenland würden sich im Umgang mit der Volkssprache leichter zurechtfinden. Sie hätten zudem einen besseren Zugang zu den einheimischen Idiomen, z. B. zum kretischen Dialekt. Das Festhalten an der erasmischen Aussprache fördert im übrigen die irrige Meinung, das (nur in seiner antiken Form gelehrte und gelernte) Griechische sei eine tote Sprache. Es ist hier nicht der Ort, ausführlich darzulegen, dass das Griechische trotz der vielen Veränderungen, die es durchgemacht hat, keine tote Sprache ist. Die Interessierten verweise ich auf den betreffenden Abschnitt meiner „Neugriechischen Grammatik, Formenlehre der Volkssprache mit einer Einführung in die Phonetik, die Entstehung und den heutigen Stand des Neugriechischen“ (A. Francke Verlag,  Tübingen 1969, ISBN 3-7720-0775-9) wo ausgeführt wird, wie sich das Neugriechische aus dem Altgriechischen entwickelt hat.. Hervorzuheben ist im Rahmen der vorliegenden Darstellung die Erhaltung der hellenischen Sprache im Laufe der Jahrtausende, insbesondere die eindrucksvolle Verbreitung des Griechischen während der hellenistischen Zeit oder die Zweisprachigkeit der geistigen Elite während der römischen Epoche.

Es ist allerdings ein Vorteil der erasmischen Aussprache nicht zu verschweigen. Sie hilft, zumindest bis zu einem gewissen Grade, bei der Orthographie. Das hob schon der namhafte kretische Linguist Georgios N. Chatzidakis (Hatzidakis) (1848-1941) hervor. Und noch etwas, was sogar wichtiger ist. Es wäre nicht richtig, wenn die Kritik daran, dass sich die erasmische Aussprache im humanistischen Westen durchgesetzt hat, eine „patriotische“ Färbung erhielte. Chatzidakis hat dies ebenfalls betont, obschon er davon  überzeugt war, dass es prinzipiell unmöglich sei herauszufinden, wie die altgriechische Aussprache wirklich war. Für den kretischen Sprachforscher ist die Frage der Aussprache nicht eine nationale, in dem Sinne, „dass die identische Aussprache auch die Volkszugehörigkeit beweise, die echte Abstammung von den alten Griechen“.

Vom geschichtlichen Standpunkt aus ist es interessant, dass sich die erasmische Aussprache nicht nur im deutschsprachigen Raum durchsetzte. Nicht zuletzt wegen des Prestiges von Erasmus „eroberte“ sie unter anderem den französischsprachigen Raum. In unserem Zusammenhang ist der Umstand von besonderer Bedeutung, dass nach dem zutreffenden Urteil des schweizerischen Hellenisten Olivier Reverdin  (1913-2000) die Übernahme der erasmischen Aussprache im französischsprachigen Genf fast auf dogmatische Art und Weise erfolgte. Reverdin lehrte an der Universität Genf während 38 Jahren die griechische Sprache und Literatur. Er hinterliess uns unter anderem interessante Ausführungen über die minoische Epoche in einem mit Photographien aus dem Nachlass von Rudolf Hoegler 1960 in Luzern erschienenen Bildband, in dem Kreta als Mutterland der Kultur Europas gepriesen wurde. Der Schweizer Altgräzist war im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen auch des Neugriechischen kundig.

Als Direktor des unter der Ägide des Europarates stehenden Europäischen Kulturzentrums Delphi hatte ich in den Jahren 1977-1979 die Ehre und Freude, mit Olivier Reverdin zusammenzuarbeiten. Er war auf meinen Vorschlag hin zum Mitglied des Verwaltungsrates dieses Kulturzentrums ernannt worden. Später schickte er mir einen vierzehnseitigen Text, der teils Autobiographisches enthielt, teils sich auf die Auseinandersetzungen über die Aussprache des Griechischen bezog. Der Text war für einen Band bestimmt, der mein unvergesslicher Freund Gunnar Hering, Professor an der Universität Wien,  1993 zu meinen Ehren veröffentlichte. Reverdins Text enthält Köstliches über den Kampf zwischen der erasmischen und der „byzantinisch-neugriechischen“ (oder schlicht und einfach der neugriechischen) Aussprache im Genf des 16. Jahrhunderts.

Gemäss dem schon erwähnten Urteil Reverdins wurde die erasmische Aussprache in Genf auf fast dogmatische Art und Weise übernommen. Hier spielten zwei Gelehrte eine wichtige Rolle: Robert Estienne (1503-1559) und Théodore de Bèze (1519-1606). Beide widmeten ihr Leben und ihr Werk dem Calvinismus. Robert Estienne, der in Paris geboren wurde, kam 1550 nach Genf, wo er die Reformation mitmachte und Calvins Bücher verlegte. Bereits in Paris hatte Robert Estienne im Jahr 1547 die Schrift von Erasmus über die Aussprache des Lateinischen und des Griechischen verlegt. In Genf führte er seinen Kampf für die „wahre und richtige“ Aussprache, für die „germana pronuntiatio“ der alten Griechen, weiter. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Germana heisst echt. Für diese germana pronuntiatio (für die echte Aussprache, worunter die erasmische Doktrin verstanden wurde) setzte sich auch Théodore de Bèze, ein des Griechischen mächtiger Theologe, ein. Er war aus dem Burgund geflohen, und nach dem 1569 erfolgten Tod Calvins wurde er Nachfolger des Reformators in der Genfer Kirchenführung.

Jene Genfer Gelehrten waren also sozusagen Philhellenen. Sozusagen. Sie waren Griechischkenner auf ihre Art. Mit Leidenschaft bekämpften sie die neugriechische Aussprache, die sie als verdorben und nicht einmal für korrigierbar hielten. 1568 schrieb de Bèze, dass diese Vulgäraussprache corruptissima und nicht erneuerbar sei. Er verurteilte den armen Reuchlin und dessen Anhänger, die sich um die Entwicklung der Sprache im Laufe der Jahrhunderte kümmerten. Und er behauptete, dass die einzig richtige (recta) und wahre (vera) Aussprache die germana pronuntiatio sei. Es mutet grotesk an, dass die, die diese Ansicht vertraten, Menschen waren, die sich mit den Evangelien beschäftigten, deren warme, menschliche Sprache, die sogenannte Koine, so nahe beim heutigen Sprachgefühl ist. Und das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Aussprache.

Nicht nur Robert Estienne, sondern auch sein Sohn Henri Estienne (1528-1598), ein hervorragender Gräzist (oder besser Altgräzist), fühlte sich der sogenannten germana pronuntiatio, der „authentischen“ Aussprache des Griechischen, gänzlich und ausschliesslich verpflichtet. In einem 1587 in Genf veröffentlichten Text brachte er seine Empörung darüber zum Ausdruck, dass in einem in Venedig herausgegebenen Handbuch die lateinische Transkription des griechischen Vaterunsers nicht gemäss der erasmischen, sondern gemäss der neugriechischen Phonetik vorgenommen worden war. Für Henri Estienne war der Herausgeber des Handbuches ein unglaubwürdiger Lehrer. Mit anderen Worten war Henri Estienne der Meinung, dass die Fremdsprachigen, die Griechisch lernten, pater hemon und nicht pater imon aussprechen sollten. In seinen Ohren klang die Aussprache pater imon falsch, obschon sie schon damals in allen griechisch-orthodoxen Kirchen befolgt wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach war die Transkription des Handbuchs von Venedig das Werk eines Griechen. Oder sie ging auf seinen Einfluss zurück. Henri Estienne jedoch meinte, das einzig Richtige zu beherrschen. 

Es gibt ein griechisches Sprichwort, das verwendet wird, wenn man sich für Dinge kompetent fühlt, für welche andere zuständiger sind. Das Sprichwort lautet: Komm Grossvater, ich will dir deine Weinberge und Äcker (ambelochorafa) zeigen. Henri Estienne wollte dem Griechen von Venedig eine Lektion erteilen, ihn also über dessen eigene Sprache belehren, oder ihm, gemäss dem Sprichwort, seine eigenen Weinberge und Äcker zeigen. Ich erwähne hier das Sprichwort von den ambelochorafa, um die Geschichte des Kreters Frangiskos Portos  (1511-1581) und des Schotten Andrew Melville deutlicher zu machen, von der nun die Rede sein wird. Diese Geschichte ist für die Haltung der griechischen Gelehrten einerseits und etlicher Gräzisten nichtgriechischer Herkunft andererseits  im Zeitalter des traditionellen Humanismus aufschlussreich.

Portos war möglicherweise italienischer Abstammung. Aber er fühlte sich als Grieche. Und er bezeichnete sich auch so. Nicht das Blut zählt, sondern das Selbstverständnis. Ich könnte über Frangiskos Portos vieles schreiben, aber ich beschränke mich auf das kurze Portrait, das uns Nikolaos M. Panagiotakis hinterlassen hat. Portos wurde während der Venezianerherrschaft in Rethymno[n] auf Kreta geboren. Seine Familie war katholisch. Laut Panagiotakis wurde er aber zum bedeutendsten griechischen Anhänger der Reformation. Er war mit Calvin befreundet. Nach abenteuerlicher Lehrtätigkeit in Modena und Ferrara fand er in Genf Zuflucht, wo er von 1562  bis 1581 (also bis zu seinem Tode) lebte. Er lehrte dort an der Universität. Er war Lehrer des grossen französischen Philologen Isaac Casaubon (1559-1614) und gab altgriechische Schriften heraus. 

Laut Olivier Reverdin wurde Francisco Porto ( Frangiskos Portos) am 25. September 1561 mit der Erteilung des Griechisch-Unterrichts an der Genfer Akademie (d.h. an der Universität) beauftragt. In der betreffenden Urkunde stand neben seinem Namen der Vermerk „griechischer Nationalität“ („de nation grecque“). Reverdin bemerkt, dass Portos die griechische Sprache vorzüglich beherrschte. Und gemeint  ist hier natürlich das Altgriechische, denn das Neugriechische war die Sprache seiner Heimat. Portos übersetzte z. B. die Ilias Homers ins Lateinische. 

1569 kam der Schotte Andrew Melville nach Genf. Er wurde mit dem Griechisch-Unterricht am Genfer Collège beauftragt. Melville brachte die berühmt-berüchtigte germana pronuntiatio mit sich, die „einzige echte Aussprache des Griechischen“, die er an der Universität seiner Heimat gelernt hatte. So war es nur natürlich, dass er sich mit Frangiskos Portos verkrachte. Portos sprach das Griechische (auch das Altgriechische) nicht erasmisch aus, sondern nach den Regeln der neugriechischen Phonetik - Regeln, die notabene nicht so neu sind, sondern auf lautliche Veränderungen zurückgehen, denen wir schon in ziemlich entfernten Zeiten begegnen. Diese Regeln wurden von den klassizisierenden Philologen der Zeit Melvilles als Regeln der gemeinen, der vulgären Sprache betrachtet und oft verachtet.

Gemäss einem Zeugnis, das Reverdin erwähnt, besuchte Melville die Griechisch-Vorlesungen von Portos, war aber mit dessen Aussprache gar nicht einverstanden. Die beiden Gelehrten stritten darüber. Und Portos sagte zu Melville mit Empörung: Ihr Schotten, ihr Barbaren, wollt ihr denn uns Griechen die Aussprache unserer eigenen Sprache lehren? („Vos Scoti, vos Barbari! Docebitis nos Graecos pronuntiationem linguae nostrae, scilicet?“). Man könnte die Worte Portos’ in Anknüpfung an das Sprichwort von den ambelochorafa folgendermassen paraphrasieren: Willst du, ein Aussenstehender, mir meine eigenen Weinberge und Äcker zeigen? 

Wie erwähnt, war Portos vielleicht italienischer Abstammung. Er war zuerst Katholik und dann Calvinist. Er lebte in Genf im Exil. Aber er blieb Kreter. Ein Kreter im Quadrat. Ein Kritikaros, wie die ausdrucksvolle griechische Bezeichnung heisst. Ich will nicht verschweigen, dass ich für diesen Kritikaros grosse Sympathie empfinde. Nicht weil auch ich kretischer Abstammung bin, sondern deshalb, weil Portos die kulturelle Kontinuität des Griechentums und somit auch diejenige der griechischen Sprache begriffen hatte. In einer Zeit, in der sich Symptome kultureller Nivellierung bemerkbar machen (ich denke an das Denglisch und analoge Erscheinungen in Griechenland), sind Portos’ Worte höchst aktuell. 

Im übrigen scheint Portos in gewissem Sinne eine tragische Gestalt gewesen zu sein. Wie Dominikos Theotokopoulos ging auch er in die Fremde. Er fand eine neue Heimat. Aber wie El Greco blieb auch er trotz seiner Identifizierung mit dem Calvinismus in der neuen Heimat in mancher Hinsicht fremd. Bei beiden Kretern scheinen die religiösen Gegensätze ihrer Zeit eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Doch diese Gegensätze tangierten ihr griechisches Selbstverständnis nicht. El Greco war ein „Gastarbeiter“ der bildenden Kunst, Portos ein solcher der Linguistik. Portos’ Werdegang illustriert, dass das Los eines Gräzisten nicht leicht ist - vor allem wenn dieser zugleich auch Grieche ist.

Im nachstehenden Beitrag wird vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung über die  Aussprache des Griechischen in den humanistischen Kreisen Europas das Porträt einer der interessantesten Gestalten der Geschichte Kretas gezeichnet. Frangiskos Portos gehört zu jenen kretischen Gelehrten, die zur Förderung der humanistischen Studien in Europa entscheidend beitrugen. Vergleiche dazu: Pavlos Tzermias, Die neugriechische Literatur, Homers Erbe als Bürde und Chance, A. Francke Verlag, Tübingen 2001, ISBN 3-7720-1736-3, S. 47 ff. Bei der Darstellung des Lebensweges und Wirkens des Frangiskos Portos sowie dessen Zwistes mit dem schottischen Humanisten Andrew Melville stützt sich der renommierte Verfasser des Beitrags unter anderem auf folgende seiner zahlreichen Werke: Pavlos N. Tzermias, Griechische und philhellenische Gelehrte in der Schweiz, Griechisch-schweizerischer Verband „Jean-Gabriel Eynard“, Athen 2001 (griechisch) und Pavlos Tzermias, Kreta von Knossos bis Kazantzakis, Wanderung durch eine faszinierende Kultur, Verlag Dr. Thomas Balistier, Mähringen 2003, ISBN 3-9806168-6-X.